Meine Krankheit hat mich ohne Vorwarnung aus heiterem Himmel erwischt.

4.6.2002,  5:30 Uhr

Aufgewacht, weil ich zur Toilette musste.

Als ich wieder aufstehen und ins Bett zurückgehen wollte, konnte ich mich nicht mehr bewegen. Der Rücken tat unendlich weh. Der Schmerz zog links bis in die Fußspitze.

Hexenschuss, Bandscheibenvorfall??? 

Irgendwie hat mein Mann es geschafft, mich ins Bett zurück zu bringen. Der notärztliche Nachtdienst  war verständigt, kam aber nicht. Später haben wir erfahren, dass der nur bis 7:00 Uhr zuständig sei, danach wäre der Hausarzt gefragt. Der war aber erst ab 8:00 Uhr erreichbar, hatte die Praxis voller Patienten und kam natürlich auch nicht zu mir. Aber zumindest schickte er den Notarzt, der mich ins Krankenhaus bringen sollte. Die Umlagerung vom Bett auf die Trage und dann in den Krankenwagen war so schmerzvoll, dass ich nur noch schreien konnte. Die armen Sanitäter hatten wahrscheinlich hinterher einen Hörschaden. 

Die Fahrt im Krankenwagen war die nächste Tortur, jede Unebenheit auf der Strasse fuhr mir durch Mark und Bein. Aber schließlich hatte ich es geschafft. Ich lag auf der Neurologie in einem Krankenbett auf dem Rücken, unfähig, mich zu bewegen. Die verabreichten Schmerzmittel brachten nur vorübergehende Linderung. 

Am nächsten Tag entwickelte ich hohes Fieber, Temperatur 41°C und war eigentlich nicht ansprechbar. Auch eine Methode, mit den Schmerzen fertig zu werden. Irgendwie ist es dem Pflegepersonal entgangen, dass ich mehrere Tage nicht selbständig gegessen und getrunken hatte. Etwas Flüssigkeit bekam ich als Infusion mit dem Schmerzmittel, aber sicher nicht ausreichend. Zumindest waren die Schmerzen erträglicher geworden. In kurzer Zeit waren alle Muskeln abgebaut, mein Körper extrem geschwächt, so dass ich schließlich nur noch mit Hilfestellung zur Toilette gehen konnte.

Am 11.6.2002 kam ein Arzt von einer anderen Station zu mir, er wollte mich von der Neurologie auf die Innere verlegen, weil sie bei der Suche nach der Ursache für das hohe Fieber auffällige Veränderungen meiner Blutwerte festgestellt hatten. Dann rückte der Arzt mit der Diagnose raus.

 

Multiples Myelom/ Plasmozytom. Knochenmarkkrebs, der laut seinen Aussagen eigentlich eher Männer über 50 befällt.

Komisch, ich bin doch gar kein Mann und auch erst 44 Jahre alt.

Auf Grund meines jugendlichen Alters würde man versuchen, die Krankheit mit Chemotherapie platt zu machen. Der Arzt hatte bereits mit einem Onkologen einen Therapieplan für mich ausgearbeitet. Gleich am nächsten Tag sollte es losgehen.

Ein MRT bestätigte die Diagnose.

 

Das Foto zeigt eine der Stellen im Körper, die gerne von den Krebszellen angegriffen werden. Die Flecken sind Löcher in der Schädeldecke. Da diese aussehen, wie mit einer Schrotflinte erzeugt, wird das Schrotschussschädel genannt. 

Jetzt weiß ich endlich, warum ich unwichtige Dinge manchmal schnell vergesse. Die fallen durch die Löcher aus meinem Hirn. Nur die wichtigen Brocken bleiben hängen. Jetzt habe ich eine schöne Ausrede für meine Schusseligkeit.  😉

 

Vielleicht lag es daran, dass ich durch das gerade erst einigermaßen überstandene Fieber noch nicht klar denken konnte, vielleicht wollte ich es auch einfach nicht richtig verstehen. Vielleicht hat der Arzt auch bewusst eine Formulierung gewählt, die ich missinterpretieren konnte und sollte. Jedenfalls habe ich die Diagnose gar nicht so tragisch gesehen. Im Gegensatz zu meinem Mann, der war am Boden zerstört.

Egal, wie es war, es war gut so. So hatte ich Zeit, mich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Erst nach und nach habe ich begriffen, dass meine Form des Plasmozytoms nicht heilbar ist. Alle Therapien bieten nur einen Aufschub, bis das Unvermeidliche irgendwann eintritt.

Gleich mit der 1. Chemo konnte ich fühlen, wie meine Rückenschmerzen weniger wurden. Die schnelle Wirkung konnten die Ärzte nicht erklären, einige andere Betroffene haben mir das aber auch so berichtet. Vielleicht ist aber hier auch nur der Wunsch "Vater des Gedankens" gewesen. Nach wenigen Tagen durfte ich nach Hause. Termine für weitere ambulante Chemotherapien waren gemacht. Der Onkologe empfahl mir, mich in  Heidelberg in der Uniklinik zur Planung der weiteren Vorgehensweise vorzustellen.

Heidelberg: Der junge Arzt in Heidelberg fackelte nicht lange herum. Nach einem kurzen Gespräch und einer Blutentnahme bekam ich einen Aufklärungsbogen für eine Stammzelltransplantation im Rahmen einer gerade laufenden Studie in die Hand gedrückt. Den sollte ich beim Mittagessen lesen und hinterher unterschreiben oder auch nicht. Als der junge Arzt hörte, dass ich zu Hause schrecklich viele Meerschweinchen hatte, traf ihn fast der Schlag: "Meerschweinchen, die sind gefährlich und infektiös, die solle ich abschaffen, sonst bekäme ich am Ende eine Lungenentzündung und wäre dann schon tot, bevor die Transplantation überhaupt gemacht werden könne." Mein Protest, dass meine Meerschweinchen so gesund leben würden, dass sogar die wilden Mäuse im Stall keinerlei Krankheiten hätten, interessierte ihn natürlich überhaupt nicht. 

Gut, da habe ich dann halt in der Mittagspause den Aufklärungsbogen durchgelesen. Beim weiteren Gespräch fragte ich den Arzt, welche Prognosen denn die verschiedenen Therapieansätze so hätten.

Das ist eine Frage, die man einem Arzt lieber nicht stellt. Diese Frage beantwortet keiner gerne, Ärzte sind ja auch nur Menschen und können nicht in die Zukunft sehen. Und wer setzt sich schon gerne in die Nesseln mit einer falschen Prognose.

Aber ich habe den Arzt ganz frech gebeten, er solle mir die Aussichten genauso knüppelhart sagen, wie er mir das mit meinen Meerschweinchen um die Ohren gehauen hatte. Und bekam tatsächlich eine Antwort.

Machen wir nichts, bin ich in ca. 6 Monaten nicht mehr da. Mit Standard-Chemo hätte ich vielleicht 5 Jahre. Mit der vorgeschlagenen Studie und Stammzelltherapie könnte ich ca. 5 Jahre gut leben und wenn der Krebs wieder fortschreitet, gäbe es weitere Behandlungsmöglichkeiten.

5 Jahre sind eine lange Zeit, die Medizin macht da große Fortschritte, wer weiß, vielleicht gibt es in 5 Jahren ja sogar eine Heilung für mich. Und da habe ich dann unterschrieben, dass ich an der Studie teilnehmen möchte.

Vorgesehen waren mehrere Wochen Chemo ambulant. Dann musste ich stationär nach Heidelberg zur Stammzellsammlung. Es sollte 2 x im Abstand von ca. 3 Monaten autolog (mit meinen eigenen Stammzellen) transplantiert werden. 

Die ambulanten Vorbereitungen habe ich recht gut vertragen, ich bin sogar selber hin- und zurück gefahren. Die Übelkeit war mit entsprechenden Medikamenten perfekt beherrschbar. Nur das Dexamethason machte mir Schwierigkeiten. Das Zeug wirkt bei mir wie ein Aufputschmittel. Ich habe in meinem Leben nie so viele Strafzettel kassiert wie unter der Einwirkung von Dexamethason. Und schlafen konnte ich damit natürlich auch nicht. 4 Tage Dexamethason, 3 Tage ohne. Die nächsten Wochen verliefen wie eine Achterbahn- Hochflug und abwärts im Entzug. 3 Monate lang.

Für den unvermeidlichen Haarausfall habe ich eine Perücke im Haarstudio auf Kassenkosten besorgt. Schulterlang, glatthaarig, blond. Das entsprach meiner damaligen Frisur, so dass viele Mitmenschen gar nicht bemerkten, dass das nicht mehr meine Haare waren. Aber immer nur blond war mir zu langweilig. Wenn ich schon so einen Mist an der Backe habe, dann spiele ich doch ein bisschen damit herum. Und habe mir zusätzlich eine rote, gelockte Frisur im Internet bestellt. Und habe die beiden Perücken dann wechselweise getragen. Morgens die eine, mittags die andere. Erst da bemerkten meine Mitmenschen, dass ich eine, nein 2 Perücken trug.

 

Im November konnten dann nach entsprechender Medikamentengabe 3 Portionen Stammzellen gesammelt werden. Anfang Dezember folgte die Hochdosis-Chemo und Bestrahlung, mit der meine Stammzellen komplett zerstört wurden. Diesmal hatte ich schon etwas mit den Nebenwirkungen wie Übelkeit und Schleimhautveränderungen zu kämpfen. Unangenehm, aber alles im Rahmen. Die Zeit musste ich halt irgendwie durchstehen. Mein Lebensgefährte hat viel Zeit bei mir im Krankenhaus verbracht und mir Mut zugesprochen, wenn ich am Boden war. Anschließend bekam ich die 1. Portion meiner gesammelten Stammzellen wieder. Die Blutwerte gingen schnell auf ein normales Niveau zurück. Kurz vor Weihnachten konnte ich schon aus der Klinik entlassen werden. 3 Monate später folgte die 2. Runde. Eigentlich das Gleiche nochmals, diesmal erwischte mich aber eine heftige Lungenentzündung. So dauerte es etwas länger als beim ersten Mal bis ich entlassen werden konnte. 

 

Bei einer Stammzelltransplantation wird ein zentraler Venenkatheder gelegt. Bei mir wurde das in einer Halsvene gemacht. 2 ca. 20 cm lange Schläuche für die Infusionen hingen dabei aus meinem Hals. Irgendwie hat mich das an Marsmännchen erinnert. Bei der 2. Transplantation war ich Übungsobjekt für einen angehenden Mediziner, wusste das aber nicht. Der junge Arzt hat sich jeden Millimeter, den er den Katheder in die Halsvene schob von einem erfahrenen Arzt genehmigen lassen. Das dauerte natürlich wesentlich länger, als wenn der andere Arzt den Katheder gelegt hätte. Mir war sofort klar, dass er das noch nicht sehr oft gemacht hatte. Aber ich wollte nicht nachfragen und ihn am Ende verunsichern, das hätte mir vielleicht geschadet. Also verkniff ich mir die Frage, bis der Katheder saß. Erst dann musste ich meine Neugier befriedigen. Und bekam die deutliche Antwort, dass ich sein erster Patient war. Großes Kompliment an den jungen Arzt, er hat seine Aufgabe perfekt gemeistert. 

 

Inzwischen war Ostern 2003 vorbei. Aus dem Krankenhausfenster konnte ich beobachten, wie die Natur aus dem Winterschlaf erwachte und wieder zu leben begann.

Genau so habe ich mich gefühlt. Nach einem längeren "Winterschlaf" kamen meine Lebensgeister wieder. Auf dem Heimweg musste mein Lebensgefährte anhalten, weil ich unbedingt ein paar kleine gelbe Blümchen betrachten wollte, die da am Straßenrand blühten.

Ich wusste gar nicht, wie schön Unkraut sein kann!

 

Diese lebensbedrohliche Krankheit hat mich gelehrt, Kleinigkeiten wahrzunehmen und zu genießen, die ich früher vermutlich übersehen hätte. 

 

Reha und psychologische Betreuung hatte ich abgelehnt. Ich wollte einfach nur nach Hause. Ich bin gerne zu Hause und mein Lebensgefährte war die beste Medizin für mich.

Ein paar Wochen hat es gedauert, bis ich mich körperlich wieder fit fühlte. Anfangs bin ich im Schneckentempo bei uns im Haus die Treppen hinauf gestiegen. Erst nach vielen Wochen fiel mir auf, dass ich wieder in ganz normalem Tempo Treppensteigen konnte.  

Bis auf die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen in Heidelberg und die monatlichen ambulanten Bisphosphonat-Infusionen für meine Knochen führte ich eigentlich ein völlig normales Leben und meistens vergaß ich sogar, dass das Plasmozytom nur schlummerte, aber nicht weg war.